Über die Geheimrede Chruschtschows auf dem 20. Parteitag der KPdSU

Khrushchev Lied‘ (Chruschtschows Lügen) von Grover Furr

eine Buchbesprechung von George Gruenthal

Quelle: http://www.revolutionarydemocracy.org/rdv17n2/furr.htm

Übersetzung ins Deutsche: Gerhard Schnehen, Mai 2014

Prof. Grover Furr hat allen Marxisten-Leninisten und Revolutionären, aber auch all jenen, die an der historischen Wahrheit interessiert sind, einen großen Dienst erwiesen. Er hat sich mit den 61 wichtigsten Behauptungen Chruschtschows in seiner Rede vor dem 20. Parteitag befasst, sie mit anderen Dokumenten konfrontiert, besonders jenen aus russischen Archiven, die kürzlich freigegeben wurden und herausgefunden, dass es sich durchweg um Lügen handelt. Er zitiert reichlich aus Primärquellen und aus Internetseiten mit englischen Übersetzungen von Quellenmaterial. Auf diese Weise hat er umfangreiches Dokumentenmaterial verfügbar gemacht und übersetzt, welches besonders für jene sehr wertvoll ist, die kein Russisch verstehen.

Um das Buch lesbarer zumachen, hat Furr es in zwei Teile untergliedert. In dem ersten, 221 Seiten umfassenden Teil stellt er jede der 61 Behauptungen vor, zusammen mit Dokumenten, die diese widerlegen. Im zweiten Teil – ein Anhang mit 194 Seiten – legt er zusätzliches Dokumentenmaterial vor, um seine Widerlegungen zu untermauern. Auf diese Weise gestattet er es dem Leser, die nur die ‚Kurzform‘ lesen möchten, sich auf den ersten Teil zu beschränken. Jene, die jedoch an allen Einzelheiten interessiert sind, werden es am leichtesten finden, jedes Kapitel zusammen mit dem dazugehörigen Kapitel aus dem Anhang zu studieren.

Ich möchte einige Beispiele von Furrs Enthüllungen anführen, um eine Vorstellung von der Bandbreite seines Buches zu geben.

1. Chruschtschow behauptete, dass,

„Stalin nicht mit dem Mittel der Überzeugung, der Erklärung oder der geduldigen Zusammenarbeit mit anderen agierte, sondern dadurch, dass er seine Vorstellungen anderen aufzwang und forderte, dass sie sich vollständig seiner Meinung unterordneten. Jeder, der gegen seine Vorstellungen war und versuchte, seinen Standpunkt und die Richtigkeit seiner Meinung zu beweisen, musste damit rechnen, dass er aus dem führenden Kollektiv ausgeschlossen wurde und aber auch damit, seiner moralischen und physischen Vernichtung entgegenzugehen.“

Es gibt zahlreiche Fakten, die dies widerlegen. Ich werde nur eine Tatsache nennen, die Marschall Schukow anführt, bezogen auf militärische Fragen, die von Furr zitiert wird:

„Nach Stalins Tod wurde die Meinung verbreitet, dass er militärische und strategische Entscheidungen allein getroffen habe. Dies war überhaupt nicht so. Ich habe schon vorhin gesagt, dass wenn man Fragen an den Obersten Befehlshaber (also an Stalin – Übers.) gerichtet hat und sie zeigten, dass man etwas von der Sache verstand, er sie dann auch berücksichtigt hat. Mir sind Fälle in Erinnerung, als er gegen seine eigene Meinung, die er noch vorher hatte, entschied und Entscheidungen wieder änderte, die er vorher getroffen hatte.“ (beide Zitate auf Seite 245 in ‚KL‘ von Furr).

2. Chruschtschow unterstellte, ohne es zu direkt zu sagen, dass Kirow durch Stalin oder auf seinen Befehl hin ermordet wurde. Furr weist darauf hin, dass bisher nur sehr wenig Material zum Mord an Kirow veröffentlicht oder Historikern verfügbar gemacht worden ist. Er stellt fest, dass der bekannte Autor zur sowjetischen Geschichte, J. Arch Getty, darauf hinwies, dass verschiedene sowjetische, aber auch post-sowjetische Kommissionen versucht hätten, Beweise dafür zu finden, dass Stalin hinter dem Mord an Kirow stand, jedoch gescheitert waren. Der ehemalige sowjetische General Sudoplatow, der sehr viele Informationen bzw. falsche Informationen über sowjetische Ereignisse nach dem Fall der Sowjetunion an den Westen weitergab, stellte 1996 fest:

„Es gibt keine Dokumente oder Beweise, um die These zu erhärten, dass Stalin oder der Apparat des NKWD an Kirows Ermordung beteiligt waren … Kirow war keine Alternative zu Stalin. Er gehörte zu den treuesten Anhängern Stalins. Chruschtschow Version wurde später gebilligt und von Gorbatschow als Teil seiner Anti-Stalin-Kampagne benutzt.“

(Grover Furr, ebd., S. 274).

3. Chruschtschow behauptete, dass Stalin für die Massenverfolgungen der späten 30iger Jahre verantwortlich gewesen sei. Aber Furr weist darauf hin, dass Chruschtschow selbst Massenrepressionen durchführte – sowohl als Parteichef in Moskau als auch als Parteivorsitzender der Ukraine. Furr zitiert aus einer Mitteilung, die Chruschtschow an Stalin geschickt hatte:

„Lieber Jossif Wissarionowitsch!

Die Ukraine bittet darum, dass jeden Monat 17.000 bis 18.000 Personen verhaftet werden. Und Moskau bestätigt nicht mehr als zwei- bis dreitausend. Ich verlangte, dass Sie sofort tätig werden.

Ihr ergebener N. Chruschtschow.“

(Ebd., S. 259).

Furr ist der Ansicht, dass Chruschtschow die Hauptschuld an den meisten Repressionen trug, außer Jeschow.

4. Furr weist darauf hin, dass Stalin immer dafür war, sich mit den Trotzkisten und anderen Agenten als Individuen zu beschäftigen, nicht jedoch durch Massenrepressionen. Er war auch dafür, dass die führenden Parteileute eine politische Ausbildung erhielten. Viel davon ist seit langer Zeit all jenen bekannt, die sich nicht von bürgerlicher trotzkistischer Propaganda blenden ließen. Stalin diskutierte dies in ‚Wie den Bolschewismus meistern?‘, wo er dazu aufruft, dass die führenden Parteikader für die Zeit, wo sie Kurse über die Parteigeschichte und weltanschauliche Fragen absolvieren, für Personalersatz sorgen mussten (vgl. ebd., S. 280f). 8.

Was die Frage der Massenrepressionen angeht, so stellte Stalin fest:

„Wie soll man in der Praxis die deutsch-japanischen Agenten des Trotzkismus zerschlagen? Soll das heißen, dass wir nicht nur solche, die echte Trotzkisten sind, sondern auch die, die mal eine Zeitlang zum Trotzkismus hin tendierten, bekämpfen und ausmerzen sollten? Soll das heißen, dass wir nicht nur die, die als trotzkistische Agenten Sabotage betreiben, sondern auch die, die mal zufällig eine Zeitlang auf dem gleichen Wege waren, wo einige Trotzkisten oder andere sich auch mal befunden haben, schlagen und ausmerzen sollen? Auf jeden Fall konnte man hier auf dem Plenum solche Stimmen hören. Können wir eine solche Auslegung der Resolution als richtig ansehen? Nein, das können wir nicht. Wie in dieser Frage, aber auch in allen anderen Fragen, MUSS ES EINE INDIVIDUELLE, DIFFENRENZIERENDE HERANGEHENSWEISE geben. Man darf nicht alle unter einen Kamm scheren. Solch eine pauschale Herangehensweise kann nur dem Kampf gegen die wahren Trotzkisten, gegen die Saboteure und Spione schaden.“

(Ebd., S. 282, Hervorhebungen von Grover Furr).

In diesem Zusammenhang lohnt es sich auch, den Teil der Rede von Schdanow auf dem 18. Parteitag im Jahre 1939 über ‚Änderungen der Statuten der KPdSU, B‘ zu lesen, wo er sich mit der Beendigung der Massenrepressionen auseinandersetzt. Dies wird in Furrs Buch nicht erwähnt, ist aber in den Archiven von ‚Revolutionary Democracy‘ (www.revolutionarydemocracy.org/archive/zhd.htm) nachlesbar.

5. Nach Chruschtschows Machtantritt fingen er und seine Anhänger an, ‚Massenrehabilitationen‘ vieler hochrangiger Parteiarbeiter, die vorher Opfer von Repressionen gewesen waren, vorzunehmen. Ohne irgendwelche genauen Untersuchungen darüber anzustellen, wer tatsächlich unschuldig war an Verbrechen und wer nicht, wurden Menschen einfach für unschuldig erklärt. Auf diese Weise wurden wichtige Erklärungen von Leuten, die ihre Schuld zugegeben hatten, mitunter völlig entstellt und aus ihnen Unschuldserklärungen konstruiert. 10.

Ein Beispiel dafür ist ein Brief an Stalin von General Jakir, der zusammen mit Marschall Tuchatschewski des Hochverrates überführt worden war und dessen Erschießung anstand. Marschall Schukow verlas vor dem ZK-Plenum vom Juni 1957, auf dem der ‚parteifeindliche Block‘ von Malenkow, Molotow und Kaganowitsch aus dem ZK ausgeschlossen wurde, diesen Brief. Eine vollständige Version dieses Briefes ist jedoch 1994 veröffentlicht worden. Schukow hatte folgende Stellen aus dem Brief weggelassen, die unten groß ausgedruckt sind:

„Lieber, mir so verbundener Genosse Stalin!

Ich wage Sie auf diese Weise anzusprechen, da ich alles gesagt habe, und es scheint mir, dass ich ERNEUT jener ehrenhafte Krieger bin, der der Partei, dem Staat und dem Volk ergeben ist, wie ich es so viele Jahre gewesen bin. Mein gesamtes bewusstes Leben verbrachte ich in selbstloser, ehrenhafter Arbeit im Angesicht der Partei und seinen Führern. – DANN FIEL ICH IN EINEN ALPTRAUM, IN EINEN IRREPARABLEN ABGRUND DES VERRATS …

DIE UNTERSUCHUNG IST ABGESCHLOSSEN. DIE ANKLAGE DES LANDESVERRATS IST MIR VORGELEGT WORDEN. ICH HABE MEINE SCHULD EINGESTANDEN, ICH HABE VOLLSTÄNDIG BEREUT. ICH HABE UNBEGRENZTES VERTRAUEN IN DIE JUSTIZ UND IN DIE ANGEMESSENHEIT DER ENTSCHEIDUNG DES GERICHTS UND DER REGIERUNG. AB JETZT IST JEDES MEINER WORTE EHRLICH. Ich sterbe mit Worten der Liebe für Sie, für die Partei, für das Land, mit einem leidenschaftlichen Glauben an den Sieg des Kommunismus.“

(Ebd., S. 214f).

Schukow versucht, ein Schuldeingeständnis in eine Unschuldserklärung zu verwandeln. Kaum vorstellbar ist ein unehrlicheres Beispiel für die Fälschung eines Zitats.

6. 1936 übernahm Jeschow die Führung des NKWDs nach der Entfernung aus dem Amt und der späteren Hinrichtung von Jagoda wegen seiner Mitgliedschaft in der Rechten Verschwörung. Jeschow ließ viele Menschen verhaften, einschließlich solcher, die vollkommen unschuldig waren, und ließ sie zwischen 1937 und 1938 erschießen. Diese Periode wird allgemein als ‚Jeschowschina‘ bezeichnet. Jeschow wurde Ende 1939 seines Amtes enthoben und durch Berija ersetzt, der mit den Massenverhaftungen Schluss machte, der aber auch nach gründlichen Untersuchungen viele unschuldige Menschen aus dem Gefängnis entließ. Jeschow wurde meinem ersten Eindruck nach hingerichtet, weil er eine herzlose, bürokratische Einstellung zu diesen Massenverhaftungen hatte. 12.

In den letzten Jahren sind jedoch viele der Vernehmungsprotokolle zum Fall Jeschow veröffentlicht worden, und Furr verweist auf die englischen Übersetzungen, die im Internet stehen. Sie beweisen, dass Jeschow diese Massenverhaftungen und Hinrichtungen organisierte, um ‚seine eigene Verwicklung in die Rechte Verschwörung und seine heimliche Spionagearbeit für die Deutschen zu tarnen, aber auch um seine Beteiligung an der Verschwörung, Stalin und andere Politbüromitglieder zu ermorden, zu verheimlichen, um durch einen Staatsstreich (vgl. ebd., S. 57) an die Macht zu kommen. Furr führt im Anhang 15 Seiten an Dokumenten zu Jechows Fall an.

7. Bevor wir uns dem Thema in Furrs Buch zuwenden, das mit Stalins Verhalten während des Zweiten Weltkriegs zu tun hat, möchten wir zuerst noch einen kleinen, aber sehr interessanten Bericht über das Verhalten der Trotzkisten im Spanischen Bürgerkrieg wiedergeben. Furr zitiert General Sudoplatow folgendermaßen: 14.

„Die Trotzkisten waren auch an bestimmten Aktionen beteiligt. Indem sie sich die Unterstützung von Personen, die mit der deutschen Spionage, der sog. Abwehr, zu tun hatten, sicherten, organisierten sie 1937 eine Revolte gegen die Republikanische Regierung in Barcelona … Was diese Verbindungen der Führer der Trotzkisten bei der Revolte in Barcelona anging, so informierte uns Schulze-Boysen darüber … Danach, also nach seiner Verhaftung, beschuldigte ihn die Gestapo, diese Information an uns weitergeleitet zu haben, was bei seiner Verurteilung zum Tode durch das Hitler-Gericht eine Rolle gespielt hat.“

(Ebd., S. 269)

Schulze-Boysen war ein deutscher Staatsbürger, der für die Sowjetunion in den Reihen der SS spionierte. Das Nazigericht, das ihn verurteilte und hinrichten ließ wegen seiner Spionage, bestätigte Sudoplatows Erklärung. Es stellte fest:

„Anfang 1938, während des Spanischen Bürgerkrieges, erfuhrt der Angeklagte in seiner offiziellen Funktion, dass eine Rebellion gegen die örtliche rote Regierung auf dem Territorium von Barcelona mit Unterstützung des deutschen Geheimdienstes vorbereitet wurde. Diese Information, zusammen mit der von Pöllnitz (ein Mitglied des ‚Roten Orchesters‘, dem berühmten antifaschistischen Spionagering) wurde von ihm an die sowjetische Botschaft in Paris weitergeleitet (vgl. ebd., S. 270).

8. Gehen wir jetzt auf einige der Lügen Chruschtschows bezüglich Stalins Verhalten während des Krieges ein, die von vielen anderen wiederholt wurden. 16.

a) Die erste ist die, dass Stalin angeblich nicht auf den Nazi-Angriff auf die Sowjetunion vorbereitet gewesen sei. Es ist keine Frage, dass Stalin wusste, dass Nazideutschland über kurz oder lang die Sowjetunion angreifen würde. Der Sowjetisch-Deutsche Nichtangriffsvertrag wurde unterzeichnet, um diesen Angriff so lange wie möglich aufzuschieben. Furr weist darauf hin, dass Stalin unter diesen Umständen keine Mobilisierung der sowjetischen Streitkräfte anordnen konnte, weil dies Hitler einen Vorwand für eine Kriegserklärung und möglicherweise auch für einen Deal mit den Westalliierten gegeben hätte. Er zitiert eine Erklärung des deutschen Generalmajors Marks aus dem Jahre 1940, dass ‚die Russen uns nicht den Gefallen tun werden und als Erste angreifen werden‘ (ebd., S. 88). Darüber hinaus konnte sich die Sowjetunion nicht auf britische Warnungen über einen bevorstehenden Angriff verlassen, weil Großbritannien ganz klar die Absicht hatte, Hitler auf die Sowjetunion zu hetzen, um danach eventuell mit Hitler zu verhandeln.

b) Nazideutschland griff die Sowjetunion in den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 an. In seiner Geheimrede beschuldigt Chruschtschow Stalin, dass er angeblich Informationen über einen bevorstehenden Angriff aus dem Wind geschlagen habe. Er zitierte eine Aussage des sowjetischen Kapitäns Worontsow, die Informationen eines sowjetischen Bürgers namens Boser enthielt, dass ‚Deutschland sich auf eine Invasion gegen die UdSSR am 14. Mai vorbereitet‘. Diese Information ist in einem Brief an Stalin von Admiral Kusnetzow vom 6. Mai enthalten, der inzwischen in voller Länge veröffentlicht worden ist. Der Brief endet mit Kusnetzows Erklärung, dass ‚ich glaube, dass diese Information falsch ist. Sie ist eigens über diesen Kanal erfolgt, mit dem Ziel, unserer Regierung zugeleitet zu werden, um herauszufinden, wie die UdSSR darauf reagieren würde‘ (vgl. ebd., S. 344f).

c) In seiner Geheimrede erwähnt Chruschtschow auch einen deutschen Staatsbürger, der die Grenze zur Sowjetunion am Vorabend der Invasion überschritt und angab, dass die Sowjetunion um 3 Uhr morgens des folgenden Tages, den 22.Juni, angegriffen werden würde. Chruschtschow behauptete, dass ‚Stalin davon sofort informiert wurde. Er hat aber selbst diese Warnung ignoriert‘..

Furr betont, dass die Warnung nicht ignoriert wurde, sondern umgehend an Moskau weitergeleitet wurde, um dort einen zuverlässigen Übersetzer zu finden und um die Nachricht zu verifizieren. Tatsächlich wurde nach dem Angriff die Erklärung des deutschen Soldaten Alfred Liskow – der sich als Kommunist bezeichnete – in der ‚Prawda‘ veröffentlicht und in ein Flugblatt verwandelt, um die Moral der deutschen Soldaten zu unterminieren, indem man sie wissen ließ, dass es Gegner des Krieges, des Nazismus und Freunde der Sowjetunion in ihren eigenen Reihen gab.

Furr widerlegt auch Chruschtschows Erklärung, die immer wieder von anderen wiederholt wurde, dass Stalin zu Beginn des Krieges demoralisiert gewesen sei und dass er sich von allen Aktivitäten in jenen ersten Tagen zurückgezogen habe. Furr verweist auf das Gästebuch in Stalins Büro, aus dem hervorgeht, dass Stalin in diesen ersten Kriegstagen äußerst aktiv war und zitiert sowohl Dimitroff als auch Schukow sowie die Antistalinisten Wolkogonow und Sudoplatow, die alle Stalins Aktivität in den ersten Tagen des Krieges bestätigten.

Chruschtschow setzte auch Stalins Fähigkeiten als Oberbefehlshaber herab. Furr zitiert Angaben der Marschälle Schukow, Wassiljewski und Golowanow, die alle in ihren Erinnerungen bezeugen, dass Stalin große militärische Fähigkeiten als Oberkommandierender besaß, und dass auch andere Kommandeure, die an der Front dienten, ihm großen Respekt entgegenbrachten.


Abschließend möchte ich ein paar Bemerkungen zu Furrs Einstellung, seine Haltung und seine Ansichten Stalin und dem sowjetischen Sozialismus machen.

Furr ist ein unvoreingenommener Forscher und Wissenschaftler, obwohl er ganz eindeutig Sympathien für Stalin und die Sowjetunion unter seiner Führung hegt. Darin unterscheidet er sich von anderen Wissenschaftlern wie J. Arch Getty, der, obwohl er nicht mit dem Sozialismus sympathisiert, zu den ersten Forschern der Nach-Stalin-Ära gehörte, der einige der Legenden der antikommunistischen Beschreibungen von Stalin als Monster entlarvt hat.

Es ist gewiss nötig, dass Wissenschaftler, die einen proletarischen Klassenstandpunkt einnehmen, von objektiven Fakten auszugehen. Unterlässt man dies, wird man zu einem Idealisten, der gerne möchte, dass sich die Welt seinen ideologischen Ansichten anpasst, statt umgekehrt. Überall in seinem Buch geht Furr von objektiven Fakten aus und zieht aus ihnen bestimmte Schlussfolgerungen, aus denen sich ergibt, dass Chruschtschow ganz offensichtlich in seiner ‚Geheimrede‘ aus dem Jahre 1956 gelogen hat.

Furr geht jedoch nicht weit über diese Schlussfolgerung hinaus. Er stellt zutreffend fest, dass die Fakten das ‚Anti-Stalin-Paradigma‘ widerlegen, das der antikommunistischen Auffassung über die Sowjetgeschichte zugrunde liegt, die sowohl in der Sowjetunion als auch im Ausland seit Mitte des letzten Jahrhunderts vorherrschend ist. Aber er diskutiert kaum deren Tragweite. Zum Beispiel wird kaum erwähnt, dass Chruschtschows Rede von einem Großteil der internationalen kommunistischen Bewegung gebilligt wurde, dass dies ein paar Jahre später zum Bruch zwischen den marxistisch-leninistischen und den revisionistischen Kräften führte und dass der Kampf zwischen ihnen bis heute immer noch von großer Bedeutung für die internationale kommunistische Bewegung ist.

Natürlich kann man Furr nicht für etwas verantwortlich machen, mit dem er sich gar nicht beschäftigen wollte. Er geht kurz im 12. Kapitel auf die Gründe ein, die Chruschtschows Angriffen auf Stalin seiner Ansicht nach zugrunde lagen:

‚Schlussfolgerung: Das fortdauernde Erbe von Chruschtschows Täuschungen‘.

Dort schreibt er:

„Stalin und seine Anhänger vertraten einen Plan zur Demokratisierung der UdSSR, der die Abhaltung von Wahlen mit Gegenkandidaten vorsah. Ihr Plan scheint beinhaltet zu haben, den Schwerpunkt der Macht in der UdSSR von Parteiführern wie Chruschtschow auf gewählte Regierungsvertreter zu verschieben. Dies hätte auch die Grundlagen dafür gelegt, die Partei als eine Organisation von hingebungsvollen Personen, die für den Kommunismus kämpfen, wiederherzustellen, statt sie als Sprungbrett für Karrieren und Einkünfte zu benutzen. Chruschtschow scheint die Unterstützung der Ersten Parteisekretäre gehabt zu haben, die entschlossen waren, dieses Projekt zu sabotieren und ihre eigenen Positionen und Privilegien zu wahren (vgl. ebd., S. 200).

Er erwähnt dann auch andere sogenannte ‚Reformen‘, die nach Stalins Tod eingeführt wurden: eine Orientierung auf den ‚Markt‘; eine Schwerpunktverlagerung weg von der Schwerindustrie, von der Produktion von Produktionsmittel und hin zur Leichtindustrie, zur Herstellung von Konsumgütern; eine Orientierung weg von der marxistisch-leninistischen Ansicht, dass der Krieg unvermeidbar ist, solange der Imperialismus existiert und hin zur Vermeidung des Krieges mit dem Imperialismus um jeden Preis; die Verneinung der dominierenden Rolle der Arbeiterklasse in der Revolution; die Ansicht, dass der Kapitalismus durch einen ‚friedlichen Wettbewerb‘ und durch parlamentarische Mittel überwunden werden kann sowie die Aufgabe von Stalins Plan, sich auf den Kommunismus zuzubewegen, auf die klassenlose Gesellschaft.

Ich bin ebenfalls der Auffassung, dass es notwendig ist, zu verhindern, dass die Partei eine Organisation für Karrieristen wird. Aber es ist keineswegs sicher, dass ‚Wahlen mit Gegenkandidaten‘ die Bürokratisierung verhindert hätten. Übrigens gab es bereits früher ähnliche Diskussionen zur Aufstellung verschiedener Kandidaten für die Wahl zu den Sowjets (mehr dazu, siehe das faszinierende Kapitel von Sam Darcy aus seinen Erinnerungen, ‚Wie die Sowjetdemokratie in den 30iger Jahren funktionierte‘, in: ‚Revolutionary Democracy‘, Band XI, Nr. 2, September 2005, bei: http://www.revolutionarydemocracy.org/rdv11n2/darcy.htm).

Ich denke, dass es besser gewesen wäre, das Parteimaximum stärker zu beachten (also das Höchsteinkommen, das ein Parteimitglied beziehen durfte, unabhängig von seiner Position) und andere materielle Privilegien für Parteimitglieder abzubauen. Auch ist mir nicht klar, weshalb eine ‚Machtverschiebung‘ weg von Parteiführern und hin zu Regierungsvertretern die Demokratie stärken sollte. Ich bin der Meinung, dass es wichtiger gewesen wäre, den Kampf gegen den Revisionismus zu verstärken. Zum Beispiel wurde selbst der so notwendige Kampf gegen den Titoismus scheinbar auf bürokratische Weise geführt, anders als noch der Kampf gegen den Trotzkismus und Bucharinismus in den 20iger Jahren. Daran kann es gelegen haben, weshalb die Sowjetunion und alle osteuropäischen Länder, außer Albanien, weniger als zehn Jahre später den Weg des Titoimus beschritten haben. Aber dies ist ein Thema für eine eigene Debatte.

Khrushchev Lied‘ gibt es bei Erythrós Press bei: http://www.erythrospress.com/store/furr.html