Interview mit Prof. Grover Furr

Veröffentlicht in:

Verdade‘ (Wahrheit), Nr. 118, Juli 2010

Quelle:  http://espressostalinist.com/2011/02/15/pcmle-grover-furr/

Übersetzung ins Deutsche:  Gerhard Schnehen, Mai 2014

„Ich musste feststellen, dass die Periode der sowjetischen Geschichte unter Stalin vollkommen entstellt wurde. Nicht nur ein Fehler hier und dort, sondern im Grunde ein gewaltiger Betrug – die größte Lüge des Jahrhunderts.“

Verdade (im Folgenden ‚V‘ abgekürzt):

Kürzlich wurde eine große Zahl von Büchern veröffentlicht, in denen die Person und das Werk Stalins angegriffen werden. Woraus erklärt sich diese Intensivierung der Angriffe in den USA und anderswo heute gegen die ‚stalinistische‘ Regierung?

Grover Furr (im Folgenden GF abgekürzt):

Seit Ende der zwanziger Jahre ist Stalin Zielscheibe von verbalen Attacken durch Antikommunisten und Kapitalisten.

Leo Trotzki griff Stalin an, um seine Unfähigkeit zu bemänteln, die Arbeitermassen in der Sowjetunion für sich zu gewinnen. Der wahre Grund für die Niederlage Trotzkis ist seine Auslegung des Marxismus – eine Art extremer ökonomischer Determinismus, wonach die Revolution dem Untergang geweiht ist, falls ihr nicht Revolutionen in entwickelten Industrieländern folgen.

Aber die Führung der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion entschied sich damals für Stalins Plan, den Sozialismus in einem Land aufzubauen. Trotzkis Vorstellungen hatten und haben immer noch einen großen Einfluss auf antikapitalistisch Eingestellte. Aber trotzkistische Historiker werden von pro-kapitalistischen Geschichtsforschern wohlwollend aufgenommen. Pierre Broué und Wadim Rogowin zum Beispiel, die führenden trotzkistischen Historiker in den letzten Jahrzehnten, werden gelobt und häufig von offen reaktionären Historikern zitiert.

Viele in der Parteiführung leisteten Stalin damals Widerstand, als er für eine Demokratisierung der Partei eintrat, aber besonders, als er sich für demokratische Wahlen zu den Sowjets einsetzte.

Die großen Verschwörungen in den 30iger Jahren förderten eine starke Opposition gegen Stalins Politik innerhalb der Eliten zutage. Diese Verschwörungen existierten tatsächlich: Die Opposition versuchte, führende sowjetische Politiker zu stürzen und zu ermorden oder die Macht durch Aufstände im Hinterland zu erobern, sogar in Zusammenarbeit mit den Deutschen und den Japanern.

Nikolai Jeschow, der Chef des NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten), hatte seine eigene rechtsgerichtete Verschwörung und arbeitete mit den Achsenmächten (Deutschland, Japan, Italien – Übers.) zusammen. Um sein Ziel zu erreichen, wurden Hunderttausende unschuldiger sowjetischer Bürger hingerichtet, um das Vertrauen in die Sowjetregierung zu erschüttern.

Als Stalin starb, machten Chruschtschow und viele andere Parteiführer Stalin für die großen Repressionen verantwortlich. Sie erfanden viele Lügen über Stalin, aber auch über Lawrenti Berija und andere enge Mitarbeiter Stalins.

Als Michail Gorbatschow 1985 die Macht übernahm, konnte er die kapitalistischen ‚Reformen‘ im Rahmen seiner antikommunistischen Kampagne als ‚Versuch rechtfertigen, die Verbrechen Stalins zu korrigieren‘.

Diese Lügen und Horrorgeschichten sind immer noch die Hauptform der antikommunistischen Propaganda überall auf der Welt. Dieser Trend nimmt wieder zu, weil man die Löhne und Sozialleistungen weiter herunterfahren möchte, und gleichzeitig propagiert man einen extremen Nationalismus, Rassismus und führt neue Kriege.

V.:

Wodurch wurde dein Interesse an der Geschichte der Sowjetunion geweckt?

GF.:

Als ich noch studierte, schloss ich mich den Protesten gegen den US-Krieg in Vietnam an. Eines Tages erzählte mir jemand, dass die vietnamesischen Kommunisten unmöglich ‚gute Kerle‘ sein könnten, weil sie alle Stalinisten seien, und Stalin war es ja, der Millionen unschuldiger Menschen ermordete.

Das hatte ich mir gemerkt, und es war dann wohl in den frühen siebziger Jahren, dass ich zum ersten Mal den ‚Großen Terror‘ von Robert Conquest las. Ich war sehr beeindruckt. Aber ich kannte mich ein bisschen mit Russisch aus, konnte die Sprache lesen, weil wir russische Literatur in der Schule behandelt hatten. Dann beschäftigte ich mich mit dem Buch von Conquest sehr intensiv. Anscheinend hatte es niemand vorher getan! Mir fiel auf, dass Conquest Quellen falsch zitierte. Seine eigenen Aufzeichnungen konnten seine antistalinistischen Schlussfolgerungen gar nicht stützen. Er hatte einfach jede Quelle, die sich gegen Stalin verwenden ließ, ausgewählt – egal ob sie zuverlässig war oder nicht.

Also beschloss ich, etwas darüber zu schreiben. Ich brauchte lange dazu, aber schließlich brachte ich 1988 ein Buch darüber heraus. In der Zeit beschäftigte ich mich mit den Untersuchungen junger Historiker, die sie über die Sowjetunion angestellt hatten, wie die von Arch Getty, Robert Thurston und viele andere.

V.:

‚Antistalinistische Schändlichkeiten‘ (Antistalinistiskaja podlost) wurde kürzlich in Moskau veröffentlicht. Erzähle uns ein bisschen davon.

GF.:

Vor zehn Jahren hörte ich, dass eine große Zahl von Dokumenten aus Geheimarchiven freigegeben worden waren und fing an, mir sie genau anzusehen.

Irgendwo las ich, dass eine oder zwei Erklärungen Chruschtschows aus seiner berühmten ‚Geheimrede‘ von 1956 ganz und gar falsch waren. Deshalb wollte ich der Sache nachgehen und beschloss, einen Artikel über einige der Fehler zu schreiben, die da vorgekommen waren. Aber ich hätte nie gedacht, dass fast alles, was Chruschtschow sagte – 60 von 61 Vorwürfen gegen Stalin und Berija – vollkommen falsch war. Bei Vorwurf Nr. 61 gab es weder etwas, was dafür noch was dagegen sprach. Mir wurde klar, dass das vieles widerlegen würde, weil die ganze Geschichte der Sowjetunion nach 1956 nur auf Chruschtschows Aussagen beruht und darauf, was Autoren, die sich auf ihn berufen, dazu geschrieben haben.

Ich fand heraus, dass die gesamte sowjetische Geschichte unter Stalin völlig entstellt worden war. Nicht nur ein Fehler hier und dort, sondern ein gewaltiger Betrug – die größte Lüge des Jahrhunderts.

Und meinem Kollegen Wladimir L. Bobrow aus Moskau war es zu verdanken, der mir zuerst diese Dokumente zeigte und der mir bei verschiedenen Gelegenheiten wertvolle Ratschläge gab und eine große Übersetzungsarbeit leistete. Ohne seinen Einsatz hätte sich nichts getan.

V.:

Bei deinen Arbeiten hattest du direkten Zugang zu sowjetischen Archiven. Was sagen die Dokumente über die Millionen aus, die unter dem Sozialismus starben, besonders während der Regierungszeit Stalins?

GF.:

Menschen sterben die ganze Zeit. Ich nehme an, dass du von den sinnlos Gestorbenen redest.

Russland und die Ukraine erlebten früher fast regelmäßig Hungersnöte. Die große Hungersnot von 1932/33 ereignete sich zur Zeit der Kollektivierungen. Ohne Frage starben damals mehr Menschen, als sie unter normalen Umständen gestorben wären. Aber hätte es keine Kollektivierung gegeben, wären weiter alle drei Jahre in den folgenden Jahren Menschen immer wieder bei den Hungersnöten gestorben. Die Kollektivierungen führten dazu, dass die Hungersnot von 1932/33 die letzte blieb, mit Ausnahme der Hungersnot von 1946/47, die noch schlimmer war, aber eine Folge des Krieges war.

Und wie ich schon sagte: Nikolai Jeschow ließ absichtlich Tausende unschuldige Menschen ermorden. Man muss sich mal überlegen, was mit Russland passiert wäre, wäre die Kollektivierung der Landwirtschaft nicht gewesen und falls Russland nicht sein Industrialisierungsprogramm so forciert hätte und falls die Intrigen der Opposition in den 30iger Jahren nicht zerschlagen worden wären – dann hätten die Nazis und die Japaner gesiegt.

Wenn Stalin nicht die Verschwörungen der Rechten, Trotzkisten und der Militärs beendet hätte, hätten die Japaner und die Deutschen das Land erobert. In beiden Fällen wären die Opfer unter den Sowjetbürgern viel, viel größer gewesen als die 28 Millionen Tote. Die Nazis hätten noch viel mehr Slawen und Juden umgebracht als ohnehin schon. Mit den Ressourcen und eventuell auch mit den Armeen der UdSSR wären die Nazis sehr viel stärker gewesen in ihrem Kampf gegen die Engländer, Franzosen und die USA. Mit Hilfe der Ölvorkommen von Sachalin hätten die Japaner sehr viel mehr Amerikaner umbringen können.

Tatsache ist, dass die UdSSR unter Stalin die Welt vor dem Faschismus gerettet hat, nicht nur während des Krieges, sondern dreimal insgesamt:

Durch die Kollektivierung, durch die Zerschlagung der Opposition der Rechten, der Trotzkisten und der Militärs und im Krieg. Wie viele Millionen hat Stalin gerettet?

V.:

Einige Autoren haben Ähnlichkeiten zwischen Stalin und Hitler ausgemacht, und einige meinen sogar, dass der sog. Stalinismus schlimmer gewesen sei als der Nazismus. Gab es wirklich eine Ähnlichkeit zwischen Stalin und Hitler?

GF.:

Einige Antikapitalisten ignorieren den Klassenkampf und die Ausbeutung. Man könnte natürlich so tun, als gäbe es diese Dinge nicht oder als seien sie nicht so wichtig. Aber der Klassenkampf ist der Motor der Geschichte. Wenn man darüber hinweggeht, fälscht man die Geschichte.

Hitler war ein Kapitalist, einer von der autoritären Sorte, wie es viele davon in kapitalistischen Ländern gibt. Stalin führte die bolschewistische Partei und die UdSSR, zu einer Zeit, als die Kommunisten in der ganzen Welt gegen alle möglichen Formen der kapitalistischen Ausbeutung kämpften.

Wenn wir ‚schlimmer‘ sagen, müssen wir ‚schlimmer für wen?‘ fragen. Die UdSSR und die kommunistische Bewegung während der Stalin-Zeit war sicherlich für Kapitalisten ‚schlimmer als die Nazis‘. Deshalb hassen Kapitalisten Stalin und die Kommunisten so sehr. Die kommunistische Bewegung zur Zeit Lenins und Stalins, und sogar später auch noch, war die stärkste Kraft für die Befreiung der Menschheit, die es je gab, und erneut müssen wir uns fragen: ‚Wessen Befreiung?‘ und ‚Befreiung wovon?‘ Die Antwort darauf: die Befreiung der Arbeiterklasse überall in der Welt von kapitalistischer Ausbeutung, von Elend und Krieg.

V.:

Einer der häufigsten Vorwürfe gegen Stalin ist der, dass er für die Hungersnot in der Ukraine von 1932/33 verantwortlich war, auch ‚Holodomor‘ genannt. Entspricht das dem, was wirklich passierte?

GF.:

‚Holodomor‘ ist ein Mythos. Er fand nie statt. Dieser Mythos wurde von profaschistischen ukrainischen Nationalisten erfunden, zusammen mit den deutschen Nazis (1988). Arch Getty, einer der besten bürgerlichen Historiker (er ist kein Marxist und Antikommunist) hat dazu einen guten Aufsatz geschrieben. Robert Conquest dagegen behauptet, dass die Sowjets absichtlich diese Hungersnot hervorgerufen hätten. Es gibt für diese Version aber nicht den kleinsten Beweis. Beweise dafür sind nirgendwo aufgetaucht.

Der Holodomor-Mythos hält sich deshalb so lange, weil er die Geburtsurkunde der ukrainischen Nationalisten ist. Diese ukrainischen Nationalisten überfielen die Sowjetunion damals zusammen mit den deutschen Nazis und ermordeten Millionen Menschen, darunter viele Ukrainer.

Mit der Propagandalüge fand man auch eine Rechtfertigung für den ‚Freiheitskampf‘ gegen die sowjetischen Kommunisten, die ‚schlimmer sind als die Nazis‘.

V.:

Eine Botschaft an die brasilianischen Arbeiter?

GF.:

Kämpft für den Kommunismus! Alle Macht der Arbeiterklasse, überall auf der Welt!